„REINEKE FUCHS oder: WER SIEGT,
HAT RECHT“
Der Ursprung
der Parabel vom Fuchs Reineke, dem Wolf Isegrim, vom König Nobel und
der ganzen domestizierten und ungezähmten Tierwelt liegt noch im Dunkel.
Zunächst
soll dem Wolf Isegrim die Hauptrolle zugefallen sein. Dann löste
Reineke ihn als Protagonisten ab. Daß beide im vorderen Orient
das Licht der Welt erblickt haben, dann auf zwei verschiedenen Wan-derwegen
- über die Nordroute bis Skandinavien und über die Süd-route
um das Mittelmeer bis zur Ile de France - geschli-chen sein sol-len, wäre
insofern bemerkens-wert, als sich ihre charakter(losen) Züge auf den
verschiedenen Wegen kaum verändert haben. Von dem Au-genblick
an jedoch, wo ihre Geschichten niedergeschrieben wurden -(zum Beispiel
im französischen Roman de Renard, im italienischen „Rainardo e Isen-grino“,
im flämischen „Reinaert de Vos“ bis hin zu Goe-thes „Epos in zwölf
Gesängen“) kam es zu unzähligen Wertungen und Inter-pretationen.
Reineke und Isegrim lebten zu-nächst als Mönche.
Dann verließen sie die Klostermauern, wurden tierische Aristokra-ten,
hatten Frauen, Maitressen, führten ein liederliches Leben und erfreuten
damit die Volksseele.
Das
mißfiel offensichtlich man-chem schreibenden Klosterbruder, und Reineke
wurde zum Ausbund des Bösen, degradierte zum diaboli-schen Malfaiteur.
Später spiegelten und demaskierten seine Geschich-ten die aristokratische
und mittelal-terliche Gesellschaft. Daß dabei Priester, Mönche
und Religion mit sinnentleerten Riten persifliert wurden, schockierte nicht,
wurde freundlich akzeptiert. Denn in Glau-ben und religiöser
Überzeugung war sowieso niemand zu erschüttern.
Mögen
die den Streichen inhärenten Lektionen noch lange zur mora-lischen
Erbauung beigetragen haben, so wurden sie schließlich in der Feder
Goethes zu einer zynisch-boshaften Kritik der zeitgenössi-schen Gesellschaft,
ihrer"herrschenden Klasse" und haben darin bis heute nichts an politischer
Relevanz verloren.
Was konnte uns nun noch, nach unzähligen Bearbeitungen,
zu einer Dramati-sierung des Stoffes bewegen?
Das
Aufzeigen einer egoistischen, korrupten Gesellschaft, in der Mißgunst,
Schadenfreude, Gier, Bestechung und Opportunismus in je-dem Augenblick
ange-sagt sind und den politischen Alltag charak-teri-sieren, wäre
Grund genug. Die Darstel-lung einer typisierten Welt, in der die
menschliche Natur wie durch ein Prisma in tierisch-anthropo-morphe Silhouetten
zerlegt wird, ist ebenfalls eine reizvolle theatrali-sche und schauspielerische
Aufgabe. Ein selbstgefälliger König Nobel, die geldgierige
Königin Fière, wie sie im Roman de Renard heißt, der
cholerisch-eifersüchtige Wolf Isengrim, ein kriecherischer Dachs
Grimbart, die nymphomane Giermund, der naive Hase Lampe, das furchtsam
Hündchen Wackerlos, der eitle Hahn Henning und der listige Fuchs Reineke
geben ein Panoptikum menschlicher Besonder-heiten, an dem Molière
seine Freude gehabt hätte - wenn eine arro-gante Klassik den mittelalterlichen
Roman de Renard nicht verächt-lich ignoriert hätte. Selbst
La Fontaine nahm von ihm keine Notiz; seine Inspirationsquellen lagen in
der griechischen Antike.
Allen
Figuren in unserem Stück ist eines gemeinsam: Lüge und Heu-chelei.
Und allen gemein ist, was - außer persönlichen "Untugenden"
- durch Heuchelei und Lüge verborgen werden soll: der Kampf um die
Positionen in der politischen Hierarchie. Was diesen Kampf inner-halb
der Gesell-schaft charakterisiert, ist seine Bewußtseins-ferne.
Je-der ist sich sicher, nach moralischen Prinzipien und Überzeugungen
zu handeln und zu (ver)urteilen, stellt aber bereits die Ehrlichkeit sol-cher
Motivationen beim Anderen in Frage. So wird die kollektive Hypokrisie
zur unbewußten Maske einer Gesellschaft, die nach den Spielregeln
diplomatischer Regeln zu funktionieren hat. Auch die Sprache, in
virtuosen Hexametern, wird zum maskierenden Kommunikationsin-strument.
Und
Reineke wird da zum Sympa-thieträger, wo er in einer amoralischen
Welt der Tiere der Geschickteste ist, um die Gesetze des Über-lebens
weiß, bewußt die anderen betrügt, ohne sich selbst dabei
zu belügen. Die Unterschiede von Gut und Böse, Recht und
Unrecht zählen nur noch in den heuchlerischen Phrasen der Schwachen.
Als Realität bleibt eine Reduktion auf den Motor, der schon immer
und heute mehr denn je, fern aller Philanthropie, ideologi-scher Verbrämung,
religiöser und morali-scher Tugenden das politische Handeln bestimmte:
der Kampf um die Macht. Reine-kes Zeitgenossen flüchten sich immer
wieder von dieser tierisch-natürlichen Wirklichkeit in die heuchlerisch-menschliche
Welt der gesellschaftlichen Selbstlüge. Daß Reineke im
Gegensatz dazu sich dieser Realität bewußt ist und sich jenseits
von Recht, Moral und Wahrheit rücksichtslos aller Mittel von Lüge,
Betrug, List und Heu-chelei bedient, macht ihn zum klassischen Machiavellisten
und mo-dernen Realpolitiker.
Vor
der Erkenntnis "Wer siegt, hat recht!" kann sich der Monarch Nobel zum
Schluß nur noch zurückziehen und die Staatsgeschäfte dem
Fähigsten überlassen.
Daß
im direkten Zugriff auf das Leben dieser Fähigste, d.h. der Stärk-ste,
auch eine magische Macht ausübt, erfährt in unserem Stück
die in zugeknöpfter Bürger-lichkeit eingeschlossene Erzählerin
mit ihren Kindern. Indem sie in der von ihr selbst erzählten
Fabel Reineke verfällt, statt dem vorgezeichneten Moralkodex zu folgen,
befreit sie sich mit ihren Kindern von über-lieferten Zwängen,
wech-selt über in die anarchische Tierwelt, zur Familie Reinekes.
Als erfin-dungsreiche Helfer, Assistenten und Inspiratoren flüchten
alle drei zu Reineke in die von der Gesellschaft weit entfernt liegende
Burg Malepartus. Erst wenn Reineke zum Schluß alle Macht im
Staat über-tragen wird, er also der politischen Hierarchie vorsteht,
statt ihr aus-geliefert zu sein, richtet sich die Fuchsfamilie am Hofe
ein.
Daß
gerade Reineke die Macht zufällt, ist vielleicht ein utopischer Hoff-nungsschimmer
der Geschichte. Nicht, daß er sich "zum Guten bekehren" und
seine geliehene Macht nun nach moralischen Grund-sätzen benutzen würde:
Revendikation von "Tugend und Weisheit" proklamiert Ermelyn, die aus ihrer
vor-tierhaften Biographie weiß, mit welchen Parolen die Welt zu domestizieren
und zu regieren ist, wenn denn die Gesellschaft einigermaßen friedlich
zusammengehalten werden soll.
Mit
Reineke bekommt der Staat den fähigsten Lügner und Betrüger
einer von ökonomischen und politischen Erfolgskriteri-en bestimmten
Welt. Daß er sich bei seinen verdienten, gelungenen Staatsgeschäften
mit Ermelyn und den wohlerzogenen Kindern die eigenen Taschen füllen
wird, ist auch von naturhafter Ehrlichkeit und normal.
Aber das wäre
dann wieder eine andere, ganz neue Geschichte...