Wolfram Mehring

„REINEKE FUCHS oder: WER SIEGT, HAT RECHT“
 

        Der Ursprung der Parabel vom Fuchs Reineke, dem Wolf Isegrim, vom König Nobel und der ganzen domestizierten und ungezähmten Tierwelt liegt noch im Dunkel.
        Zunächst soll dem Wolf Isegrim die Hauptrolle zugefallen sein.  Dann löste Reineke ihn als Protagonisten ab.  Daß beide im vorderen Orient das Licht der Welt erblickt haben, dann auf zwei verschiedenen Wan-derwegen - über die Nordroute bis Skandinavien und über die Süd-route um das Mittelmeer bis zur Ile de France - geschli-chen sein sol-len, wäre insofern bemerkens-wert, als sich ihre charakter(losen) Züge auf den verschiedenen Wegen kaum verändert haben.  Von dem Au-genblick an jedoch, wo ihre Geschichten niedergeschrieben wurden -(zum Beispiel im französischen Roman de Renard, im italienischen „Rainardo e Isen-grino“, im flämischen „Reinaert de Vos“ bis hin zu Goe-thes „Epos in zwölf Gesängen“) kam es zu unzähligen Wertungen und Inter-pretationen.
 Reineke und Isegrim lebten zu-nächst als Mönche.  Dann verließen sie die Klostermauern, wurden tierische Aristokra-ten, hatten Frauen, Maitressen, führten ein liederliches Leben und erfreuten damit die Volksseele.
         Das mißfiel offensichtlich man-chem schreibenden Klosterbruder, und Reineke wurde zum Ausbund des Bösen, degradierte zum diaboli-schen Malfaiteur. Später spiegelten und demaskierten seine Geschich-ten die aristokratische und mittelal-terliche Gesellschaft.  Daß dabei Priester, Mönche und Religion mit sinnentleerten Riten persifliert wurden, schockierte nicht, wurde freundlich akzeptiert.  Denn in Glau-ben und religiöser Überzeugung war sowieso niemand zu erschüttern.
         Mögen die den Streichen inhärenten Lektionen noch lange zur mora-lischen Erbauung beigetragen haben, so wurden sie schließlich in der Feder Goethes zu einer zynisch-boshaften Kritik der zeitgenössi-schen Gesellschaft, ihrer"herrschenden Klasse" und haben darin bis heute nichts an politischer Relevanz verloren.
 Was konnte uns nun noch, nach unzähligen Bearbeitungen, zu einer Dramati-sierung des Stoffes bewegen?
         Das Aufzeigen einer egoistischen, korrupten Gesellschaft, in der Mißgunst, Schadenfreude, Gier, Bestechung und Opportunismus in je-dem Augenblick ange-sagt sind und den politischen Alltag charak-teri-sieren, wäre Grund genug.  Die Darstel-lung einer typisierten Welt, in der die menschliche Natur wie durch ein Prisma in tierisch-anthropo-morphe Silhouetten zerlegt wird, ist ebenfalls eine reizvolle theatrali-sche und schauspielerische Aufgabe.  Ein selbstgefälliger König Nobel, die geldgierige Königin Fière, wie sie im Roman de Renard heißt, der cholerisch-eifersüchtige Wolf  Isengrim, ein kriecherischer Dachs Grimbart, die nymphomane Giermund, der naive Hase Lampe, das furchtsam Hündchen Wackerlos, der eitle Hahn Henning und der listige Fuchs Reineke geben ein Panoptikum menschlicher Besonder-heiten, an dem Molière seine Freude gehabt hätte - wenn eine arro-gante Klassik den mittelalterlichen Roman de Renard nicht verächt-lich ignoriert hätte.  Selbst La Fontaine nahm von ihm keine Notiz; seine Inspirationsquellen lagen in der griechischen Antike.
         Allen Figuren in unserem Stück ist eines gemeinsam: Lüge und Heu-chelei.  Und allen gemein ist, was - außer persönlichen "Untugenden" - durch Heuchelei und Lüge verborgen werden soll: der Kampf um die Positionen in der politischen Hierarchie.  Was diesen Kampf inner-halb der Gesell-schaft charakterisiert, ist seine Bewußtseins-ferne.  Je-der ist sich sicher, nach moralischen Prinzipien und Überzeugungen zu handeln und zu (ver)urteilen, stellt aber bereits die Ehrlichkeit sol-cher Motivationen beim Anderen in Frage.  So wird die kollektive Hypokrisie zur unbewußten Maske einer Gesellschaft, die nach den Spielregeln diplomatischer Regeln zu funktionieren hat.  Auch die Sprache, in virtuosen Hexametern, wird zum maskierenden Kommunikationsin-strument.
         Und Reineke wird da zum Sympa-thieträger, wo er in einer amoralischen Welt der Tiere der Geschickteste ist, um die Gesetze des Über-lebens weiß, bewußt die anderen betrügt, ohne sich selbst dabei zu belügen.  Die Unterschiede von Gut und Böse, Recht und Unrecht zählen nur noch in den heuchlerischen Phrasen der Schwachen.  Als Realität bleibt eine Reduktion auf den Motor, der schon immer und heute mehr denn je, fern aller Philanthropie, ideologi-scher Verbrämung, religiöser und morali-scher Tugenden das politische Handeln bestimmte: der Kampf um die Macht. Reine-kes Zeitgenossen flüchten sich immer wieder von dieser tierisch-natürlichen Wirklichkeit in die heuchlerisch-menschliche Welt der gesellschaftlichen Selbstlüge.  Daß Reineke im Gegensatz dazu sich dieser Realität bewußt ist und sich jenseits von Recht, Moral und Wahrheit rücksichtslos aller Mittel von Lüge, Betrug, List und Heu-chelei bedient, macht ihn zum klassischen Machiavellisten und mo-dernen Realpolitiker.
         Vor der Erkenntnis "Wer siegt, hat recht!" kann sich der Monarch Nobel zum Schluß nur noch zurückziehen und die Staatsgeschäfte dem Fähigsten überlassen.
         Daß im direkten Zugriff auf das Leben dieser Fähigste, d.h. der Stärk-ste, auch eine magische Macht ausübt, erfährt in unserem Stück die in zugeknöpfter Bürger-lichkeit eingeschlossene Erzählerin mit ihren Kindern.  Indem sie in der von ihr selbst erzählten Fabel Reineke verfällt, statt dem vorgezeichneten Moralkodex zu folgen, befreit sie sich mit ihren Kindern von über-lieferten Zwängen, wech-selt über in die anarchische Tierwelt, zur Familie Reinekes.  Als erfin-dungsreiche Helfer, Assistenten und Inspiratoren flüchten alle drei zu Reineke in die von der Gesellschaft weit entfernt liegende Burg Malepartus.  Erst wenn Reineke zum Schluß alle Macht im Staat über-tragen wird, er also der politischen Hierarchie vorsteht, statt ihr aus-geliefert zu sein, richtet sich die Fuchsfamilie am Hofe ein.
         Daß gerade Reineke die Macht zufällt, ist vielleicht ein utopischer Hoff-nungsschimmer der Geschichte.  Nicht, daß er sich "zum Guten bekehren" und seine geliehene Macht nun nach moralischen Grund-sätzen benutzen würde: Revendikation von "Tugend und Weisheit" proklamiert Ermelyn, die aus ihrer vor-tierhaften Biographie weiß, mit welchen Parolen die Welt zu domestizieren und zu regieren ist, wenn denn die Gesellschaft einigermaßen friedlich zusammengehalten werden soll.
         Mit Reineke bekommt der Staat den fähigsten Lügner und Betrüger einer von ökonomischen und politischen Erfolgskriteri-en bestimmten Welt.  Daß er sich bei seinen verdienten, gelungenen Staatsgeschäften mit Ermelyn und den wohlerzogenen Kindern die eigenen Taschen füllen wird, ist auch von naturhafter Ehrlichkeit und normal.
        Aber das wäre dann wieder eine andere, ganz neue Geschichte...

Wolfram Mehring

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